DIE LÜGNER

Andreas Ebert

Dieses Buch ist wirklich gefährlich. Ich habe das als Übersetzer am eigenen Leib oder besser gesagt: an der eigenen Seele erfahren. Selten hat mir eine Arbeit so viel Mühe gemacht; manchmal schleppte ich mich nur unter größten inneren Widerständen an den Computer. Ich habe mich gefragt, woran das liegt. Scott Peck gibt in seinem Buch selbst die Antwort: Die andauernde Beschäftigung mit der Energie des Bösen beschmutzt die eigene Seele, zieht nach unten, macht krank, aktiviert die eigenen (oft verdrängten) dunklen Seelenanteile. Beim Übersetzen seines Buches bin ich seinem Inhalt sehr intensiv ausgesetzt; ich muss mich auf alles einlassen. Manchmal bin ich nach der Arbeit an diesem Buch in die Badewanne gestiegen, um mich zu „reinigen". Beim Kapitel über den Exorzismus war ich nahe daran, das Handtuch zu werfen. Ich machte mir ernsthafte Sorgen, was all das bei Leserinnen auslösen könnte, die seelisch labil sind. Auch meine Anfragen an bestimmte Inhalte des Buches vermehrten sich. Ich will nur einige nennen:„Böse” Eltern sind nach Pecks Auffassung oftmals die Hauptschuldigen am Leiden eines Kindes. Damit hat er sicher Recht. Aber weshalb sind sie „böse"? Sind nicht auch sie in der Regel Opfer fremder Bosheit gewesen, bevor sie Täter geworden sind? Ich frage mich, ob der „freie Wille" beim „Böse werden" eine derart hervorgehobene Rolle spielt, wie der Autor das sieht. Die alte christliche Lehre von der „Erbsünde", die im Kern besagt, dass wir von Geburt an in einer gefallenen Welt leben, in der Schuld und Schicksal unentwirrbar miteinander verquickt sind, scheint mir in diesem Zusammenhang realistischer zu sein als die Lehre vom „freien Willen", die den unbewussten Antriebskräften der Psyche zu wenig Beachtung schenkt.Einer weiteren Gefahr, die in diesem Buch lauert, bin ich selbst erlegen: der Gefahr, andere leichtfertig zu „dämonisieren". Die Lektüre hat auch mich dazu verführt, plötzlich überall um mich herum „böse" Menschen zu entdecken. Ich weiß nicht, inwiefern diese Diagnose im Einzelfall stimmt; aber ich merke, dass ich selbst in dem Augenblick, wo ich andere „böse" nenne, aufhöre, nach meinem Anteil in einem zwischenmenschlichen Konflikt zu fragen. M. Scott Peck ist Psychiater. Er hat daher wahrscheinlich keine Lehranalyse gemacht; aus seinem Buch geht auch nicht hervor, ob er selbst regelmäßig psychologisch begleitet („supervisiert") wird. Bei Charlenes Fall beispielsweise hätte ich mir eine Reflexion darüber gewünscht, inwiefern die eigene Versagenserfahrung, die junge Frau nicht heilen zu können, beim Urteil „böse" mitbeteiligt sein könnte. Die Abwehrmechanismen, die „böse" Menschen bei uns in Gang setzen, hängen ja nicht in erster Linie damit zusammen, dass hier die Bosheit anderer auf unsere eigene Güte trifft, sondern dass uns solche Menschen an das eigene Potential zu Lüge und Zerstörung erinnern. Wahrhaft „böse" Menschen halten uns „kleinen Bösewichten" einen Vergrößerungsspiegel vor. Wir erschrecken, weil das, was wir da sehen, uns selbst nicht ganz und gar fremd ist. Vielleicht ist es ja bei mir zum Beispiel tatsächlich nur Helmut Kohls fatale „Gnade der späten Geburt", die es verhindert hat, dass ich Juden vergast oder polnische Partisanen erschossen habe. Auch im Kampf mit dem Bösen sind wir in der Regel „verwundete Heiler" und keine strahlenden Heiligen, deren Licht alles Finstere absorbiert. Wir haben im Claudius Verlag lange darüber diskutiert, ob wir „Die Lügner" auf Deutsch veröffentlichen sollen. Es gibt tatsächlich Gründe, die dagegen sprechen. Aber es gibt auch Gründe, hoffentlich bessere Gründe, die dafür sprechen. Sie waren für uns ausschlaggebend: Das Thema des Bösen gehört zu den Grundfragen des Lebens. Angesichts des unendlichen Leids, das wir Menschen im kleinen wie im großen einander zufügen, wäre es sträflicher Leichtsinn oder himmelschreiende Gedankenlosigkeit, diesem Thema auszuweichen, wie es in der Psychologie, aber auch in der Theologie in den letzten Jahrzehnten immer wieder geschehen ist. Scott Pecks Ver¬dienst ist es, dass er das Thema in den USA wieder „salonfähig" gemacht hat bis hin zu der eben doch nicht endgültig erledigten Frage nach dem Satanischen, nach einer überindividuellen, lebensverneinenden und gottfeindlichen Macht mit eigener tödlicher Logik und zielstrebigem Handeln. Man muss Pecks Ansichten zu diesem Thema nicht übernehmen; aber sie erzwingen erneut eine tiefgehende Debatte.Pecks Analyse bestimmter Zusammenhänge, die das kollektive Böse begünstigen, hat mich persönlich mit vielem versöhnt, was mir das Übersetzen zuvor schwer gemacht hat.Die Einsicht, dass hierarchische Strukturen, bei der Autorität, Verantwortung und das eigene Gewissen an die Führer delegiert werden, Todesstrukturen sind, die das Böse begünstigen, löste bei mir so etwas wie ein befreiendes Aha Erlebnis. aus. Haben nicht alle lebensfeindlichen und krankmachen¬den Ideologien und politischen Systeme in der Vergangenheit und Gegenwart genauso und nur so funktioniert? Als die Menschen in Leipzig endlich gerufen haben: „Wir sind das Volk!", als sie also aufgehört haben, schweigende Komplizen eines Unrechtssystems zu sein, war der Bann und die Macht des Bösen gebrochen. Das Böse lebt immer davon, dass es die Komplizenschaft der Feigheit gibt.Wenn heute viele Zeitgenossinnen das kirchliche Christentum als „tot" empfinden, dann hängt das wohl auch damit zusammen, dass sie die Kirche als hierarchische Organisation erleben, in der vor allem die „Laien" weitgehend entmündigt sind und in der die Gewissen nicht wirklich geschärft werden. Wie hätten die Kirchen sonst so oft Komplizinnen des Bösen sein können? Jesus hat seine Jüngerinnen und Jünger vor den Gefahren der Hierarchie gewarnt: „Ihr wisst, dass die Machthaber ihre Völker unterdrücken und ihre Macht missbrauchen. So soll es bei euch nicht sein. Wer bei euch groß sein will, soll allen anderen dienen ... Auch ich bin nicht gekommen, mich bedienen zu lassen, sondern um zu dienen. .." (Matthäus 20, 25 ff). Es ist fast grotesk, dass die Kirche, die Jesus ihren Gründer nennt, schon nach wenigen Jahrzehnten angefangen hat, Hierarchien von Profis und Spezialisten aufzubauen und dem „Volk" nur noch die Rolle des Zahlens, Nickens und Gehorchens zuzubilligen. Die römische Kirche geht bis heute davon aus,dass die hierarchische Struktur der Kirche keine menschliche Einrichtung, sondern für alle Ewigkeit von Gott gewollt ist. Aber die Geschichte beweist: Je mehr die hierarchische Kirche auf die eigene Macht oder „Unfehlbarkeit" und auf den Gehorsam der Menschen gesetzt hat, desto anfälliger wurde sie für das Böse. Kreuzzüge, Inquisitionen und Hexenverbrennungen waren Akte einer böse gewordenen Machtkirche, die den eigenen Schatten auf Andersgläubige, Andersdenkende und Frauen projiziert hat. Wenn die Kirche „Vortrupp des Lebens" sein soll (Helmut Gollwitzer), dann muss jede Kirchenreform darauf zielen, dass Menschen mündig werden und Verantwortung übernehmen und dass Spezialisierung abgebaut wird. Nächstenliebe beispielsweise lässt sich nicht an Diakonie Konzerne delegieren. Eine geschwisterliche Gemeinde kann auch ein Ort der Heilung werden, wo die Kräfte des Lebens den Kräften des Todes widerstehen. Es erübrigt sich zu betonen, dass das immer auch politische Implikationen hat. Wir geben dieses Buch auch heraus, weil wir davon ausgehen, dass die meisten Leserinnen verantwortlich und mündig mit seinen Inhalten umgehen werden. Es hat einen wichtigen Dienst geleistet, wenn es vielen von uns zu Selbstprüfung hilft: Wo sind wir selbst Komplizen des Bösen? Wo regieren kleine und große Lügen unser Leben? Hinter welchen Masken der Ehrbarkeit leben wir? Wie könnte unser nächster Schritt zu Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit aussehen, und damit unser nächster Schritt zum Guten und zum Leben? Die Mühe, die mir das Übersetzen und manchen Leserinnen vielleicht die Lektüre dieses Buches gemacht hat, hat sich gelohnt, wenn wir im Nachhinein, wie Scott Peck es sich wünscht, den Balken im eigenen Auge deutlicher sehen und vielleicht ein wenig mehr Mut und Kompetenz haben, unseren Mitmenschen dabei behilflich zu sein, die Fremdkörper zu entfernen, die sich in ihrem Auge befinden.





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